Donnerstag, 1. September 2016

Mutterseelenallein


Vielleicht erinnert sich noch jemand an diese Ice-Bucket-Challenge, bei der sich mehr oder weniger Prominente publikumswirksam Eiswasser aus einem Eimer über den Kopf gossen. Sie haben sich damit von der Verpflichtung freigekauft eine größere Spende zur Erforschung und Bekämpfung der Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) zu machen. Sie durften dann drei weitere Personen benennen, die dann ihrerseits vor die Challenge gestellt wurden. Natürlich haben die meisten dann auch noch einen großzügigen Scheck in die Kamera gehalten, weil sie ja nicht nur für jeden Spaß zu haben, sondern eben auch noch richtig gute und selbstlose Menschen sind. Mag man verwerflich finden, dass eine so grausame Krankheit als Bühne zur eitlen Selbstdarstellung herhalten muss. Es muß aber auch festgestellt werden, dass diese Challenge dazu geführt hat, dass fast 50 Millionen Dollar gespendet wurden, ein Vielfaches von den ungefähr 2 Millionen, die im vergleichbaren Vorjahr gespendet wurde. Wenn man dann noch weiß, dass diese Aktion, von einem amerikanischen Sportler, der selber an ALS erkrankt war, initiiert wurde, relativiert sich das Unbehagen weiter.

Bei ALS werden die Nervenzellen, die für die Muskelbewegungen verantwortlich sind, nach und nach zerstört. Im Krankheitsverlauf verliert der Kranke allmählich die Kontrolle über seinen Körper und ist am Ende von Kopf bis Fuß gelähmt, ausgenommen der Augenmuskeln. Nicht wenige der Menschen, denen diese Diagnose gestellt wurde, warten dieses Ende nicht ab. Meine Mutter ist diesen Weg bis zum bitteren Ende gegangen.




Heute ist ihr Todestag. Es sind so viele Gedanken, die mich dazu erfüllen. Die Wut, dass sie diese Krankheit bekommen mußte und dass es diese Folterkrankheit überhaupt gibt. Die Vorstellung, selbst von der kleinsten Fliege tyrannisiert werden zu können und völlig ausgeliefert zu sein, macht mich schier wahnsinnig. Ganz abgesehen von den Schmerzen, die man trotz Lähmung natürlich noch voll empfindet. Ich bin noch immer beeindruckt, dass bei dem ganzen Kummer und der Verzweiflung, die diese Krankheit verursacht, meine Mutter bis zum letzten Tag auch immer wieder eine aufmerksame, emphatische  und zugewandte Zuhörerin war. Sogar Lachen mit den Augen kam bis zuletzt immer wieder vor. Dazu muß ich sagen, dass die moderne Technik ein echter Segen ist, denn es war ein großes Glück, dass sie endlich im letzten Jahr einen Augencomputer bekam, mit dem sie wieder mit der Außenwelt kommunizieren und sogar Emails schreiben konnte.

Dennoch habe ich den Tod nach dem ganzen Leidensweg auch als etwas Erlösendes empfunden. Endlich war diese Quälerei zu Ende. Aber sie fehlt mir. Es gibt immer wieder den Moment, wo ich denke, dass ich ihr etwas erzählen muss und mir dann klar wird, dass das nicht mehr geht. Oder dass ich gerne wissen würde, was sie von einer Sache hält.

Auch wenn man schon lange auf eigenen Beinen steht und eine eigene Familie aufgebaut hat, ist der Tod der Mutter doch ein sehr trauriger Einschnitt, ganz direkt aber auch im übertragenen Sinne, der eigene Tod rückt emotional auch näher, das Dach ist sozusagen weg. Mein Vater, der meine Mutter bis zum Schluß aufopfernd und mit Geduld gepflegt hat und bis zum Ende bei ihr war, hat sicher die größte Herausforderung sich in seiner neuen Rolle zurecht zu finden.

Trotzdem der Tod auch als Erlösung empfunden wird, bleibt er doch nach wie vor ein großes Rätsel. Manchmal, denke ich, warum sollte es nicht doch irgendetwas nach dem Tod geben, was höher ist als unsere Vernunft? Wieso kann man nicht so ähnlich wie in der Naturwissenschaft vorgehen und solange von der Annahme ausgehen, dass mit dem Tod nicht alles vorbei, bis das Gegenteil erwiesen ist.



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